© 1984 - 2025 | DIE ANDEREN

Gestaltung: Richter | Schüler

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Vom Tresen auf die Bühne

September 2011

Mr. Speiche wird 65 und seine Monokel Blues Band 35 Jahre alt.

Von Mark Modsen

Wenn am 27. Oktober die Bühnenscheinwerfer des Berliner Kesselhauses angehen, werden sie eine Legende der ostdeutschen Musikszene beleuchten: Monokel gehört zu den wichtigsten Bands der DDR-Bluesszene und ihr Mitbegründer Jörg „Speiche“ Schütze (bg) zu den dienstältesten Rockern der Republik. Speiche und Kollegen liefern in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Soundtrack zum imaginären Freiheitsfilm der „Blues-Kunden“, die mit Shell-Parka, Schlafsack und Flickenjeans über die Schlaglochpisten von Arkona bis Zittau trampen. Jedes Wochenende bietet sich in irgendeinem abgelegenen Dorfsaal das gleiche Bild: Grünblaue Horden langhaariger Wettkampftrinker lassen sich von Monokels druckvollem Rhythm & Blues in Ekstase versetzen. Haare fliegen, Hirschbeutel kreisen, Gläser klirren. Bis zu 180 Mal pro Jahr rücken die Berliner aus, um ihre jeweils fünfstündigen Konzerte in Sachsen oder Thüringen zu absolvieren. Entspannung im Backstage ? Fehlanzeige.
„Die Fans wollten nicht, dass wir uns in den Spielpausen nach hinten verfatzen“, sagt Speiche. „Wir haben im Gastraum mit ihnen gebechert.“

Als der langhaarige Bassist 1976 zusammen mit Sebastian „Buzz Dee“ Baur (g, voc), Wilfried Borchert (g, voc), Mario Janik (dr) und Frank „Gala“ Gahler (voc, m-harp) Monokel gründet, hat er eine szenetypische Biografie vorzuweisen: In den Fünfzigerjahren bastelt der musikbesessene Junge einen sogenannten Kristalldetektor, um den geliebten AFN hören zu können, den Mittelwellen-Sender der US Army in Westberlin. Die GIs infizieren den kleinen Jörg mit dem Blues-Virus. „Ich lag mit einem harten Wehrmachtskopfhörer unter der Bettdecke und hörte AFN, bis die Ohren schmerzten“, erinnert sich Speiche. Mit Gleichgesinnten trifft sich der Rebell regelmäßig am Bahnhof Lichtenberg und gerät als „Gammler“ ins Visier der umerziehungssüchtigen Staatsmacht. Mit 19 steigt Speiche als Bassist beim Diana Show Quintett ein. Die Formation um die heutige TV-Stimmungskanone Achim Mentzel ist für ihre skandalösen Konzerte berüchtigt. Bei einem Auftritt wird Speiche wegen sogenannten „asozialen Lebenswandels“ – eine gängige Anklage gegen missliebige Musiker – verhaftet und wandert in den Knast. Klar, dass auch Monokel zehn Jahre später keine Lieblinge der Kulturfunktionäre werden. Dafür lieben sie die Fans um so inniger und verzeihen ihnen die zahlreichen Besetzungswechsel, die ihnen Monokel in 35 Jahren Bandgeschichte zumutet. Buzz Dee geht zu Keks, MCB und schließlich zu Knorkator, Gitarristen und Drummer wechseln und als Gala zu NO 55 desertiert, ist die Stimmung auf einem Tiefpunkt. Bernd „Zuppe“ Buchholz stößt von der Passat Blues Band zu Speiche und steht bis zum heutigen Tag mit ihm auf der Bühne.

Eines Tage bietet der Folkblues-Star Stefan Diestelmann seinem Kumpel Speiche an, Monokel als Backing Band mit auf Tour zu nehmen. Diese Einladung verschafft der Gruppe den denkwürdigsten Auftritt ihrer Karriere.

„Wir haben am 8. März 1983 zum Frauentag im Dessauer Frauenknast gespielt, vor dreihundert weiblichen Häftlingen“, erzählt der damalige Schlagzeuger Bernd „Erny“ Damitz. „Die Mädels wurden in Dreierreihen von Kalaschnikow-tragenden Wärterinnen in den bestuhlten Saal geführt. Wir haben anderthalb Stunden gespielt und zwischendurch Schokolade und Karo-Schachteln unauffällig unter die Sitze des Publikums geschossen.“
„Ich habe noch vor dem Konzert mit dem Gefängnisdirektor Schach gespielt“, sagt Speiche schaudernd. „Dabei habe ich versucht, meine Knasttätowierung am Unterarm zu verbergen. Mir ist bis heute ein Rätsel, wie das Konzert zustande kam. Unsere Roadies hatten auch gesessen. Sogar Diestelmann war vorher inhaftiert gewesen.“

Diestelmann haut zwei Jahre später in den Westen ab. Monokel spielen 1986 binnen zwei Tagen ihre erste und einzige Ost-LP ein.

Als die DDR die Mauer öffnet, verdrückt sich der Manager mit der Bandkasse. Es folgen magere Jahre, in denen Speiche als Roadie schuftet und eine Musikkneipe eröffnet. Mit seinen ex-Kollegen streitet er sich vor Gericht. Das Resultat: Monokel teilen sich in Mr. Speiches Monokel Blues Band und Monokel Kraftblues.

Das Buch „Bye-bye Lübben City“ leitet 2004 ein Revival ein. Nach einem Monokel-Song benannt, beschreiben darin szenekundige Autoren die Ost-Bluesszene. Leider scheitert die Versöhnung der Monokel-Fraktionen. Speiche beschließt, es trotzdem noch einmal zu versuchen. Ihm ist klar: 80.000 Stück wie damals beim DDR-Label Amiga werden Monokel nie wieder von einem Album verkaufen. Doch Speiches Truppe feiert andere Erfolge: Am 3. Oktober 2008 begeistert sie im Westberliner Quasimodo ihre Fans derart, dass die für den höchsten Getränkeumsatz in der Geschichte des Clubs sorgen –  acht Fässer Bier werden geleert.
Die Latte für das Jubiläumskonzert im Kesselhaus liegt also hoch. Stargäste haben sich angesagt: Stimmungskanone Achim Mentzel wird zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder mit seinem ex-Bassisten vom Diana Show Quintett die Bühne teilen. Es empfiehlt sich, das Auto zuhause zu lassen.

Mr. Speiche wird 65 und seine Monokel Blues Band 35 Jahre alt.

Von Mark Modsen

Wenn am 27. Oktober die Bühnenscheinwerfer des Berliner Kesselhauses angehen, werden sie eine Legende der ostdeutschen Musikszene beleuchten: Monokel gehört zu den wichtigsten Bands der DDR-Bluesszene und ihr Mitbegründer Jörg „Speiche“ Schütze (bg) zu den dienstältesten Rockern der Republik. Speiche und Kollegen liefern in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Soundtrack zum imaginären Freiheitsfilm der „Blues-Kunden“, die mit Shell-Parka, Schlafsack und Flickenjeans über die Schlaglochpisten von Arkona bis Zittau trampen. Jedes Wochenende bietet sich in irgendeinem abgelegenen Dorfsaal das gleiche Bild: Grünblaue Horden langhaariger Wettkampftrinker lassen sich von Monokels druckvollem Rhythm & Blues in Ekstase versetzen. Haare fliegen, Hirschbeutel kreisen, Gläser klirren. Bis zu 180 Mal pro Jahr rücken die Berliner aus, um ihre jeweils fünfstündigen Konzerte in Sachsen oder Thüringen zu absolvieren. Entspannung im Backstage ? Fehlanzeige.
„Die Fans wollten nicht, dass wir uns in den Spielpausen nach hinten verfatzen“, sagt Speiche. „Wir haben im Gastraum mit ihnen gebechert.“

Als der langhaarige Bassist 1976 zusammen mit Sebastian „Buzz Dee“ Baur (g, voc), Wilfried Borchert (g, voc), Mario Janik (dr) und Frank „Gala“ Gahler (voc, m-harp) Monokel gründet, hat er eine szenetypische Biografie vorzuweisen: In den Fünfzigerjahren bastelt der musikbesessene Junge einen sogenannten Kristalldetektor, um den geliebten AFN hören zu können, den Mittelwellen-Sender der US Army in Westberlin. Die GIs infizieren den kleinen Jörg mit dem Blues-Virus. „Ich lag mit einem harten Wehrmachtskopfhörer unter der Bettdecke und hörte AFN, bis die Ohren schmerzten“, erinnert sich Speiche. Mit Gleichgesinnten trifft sich der Rebell regelmäßig am Bahnhof Lichtenberg und gerät als „Gammler“ ins Visier der umerziehungssüchtigen Staatsmacht. Mit 19 steigt Speiche als Bassist beim Diana Show Quintett ein. Die Formation um die heutige TV-Stimmungskanone Achim Mentzel ist für ihre skandalösen Konzerte berüchtigt. Bei einem Auftritt wird Speiche wegen sogenannten „asozialen Lebenswandels“ – eine gängige Anklage gegen missliebige Musiker – verhaftet und wandert in den Knast. Klar, dass auch Monokel zehn Jahre später keine Lieblinge der Kulturfunktionäre werden. Dafür lieben sie die Fans um so inniger und verzeihen ihnen die zahlreichen Besetzungswechsel, die ihnen Monokel in 35 Jahren Bandgeschichte zumutet. Buzz Dee geht zu Keks, MCB und schließlich zu Knorkator, Gitarristen und Drummer wechseln und als Gala zu NO 55 desertiert, ist die Stimmung auf einem Tiefpunkt. Bernd „Zuppe“ Buchholz stößt von der Passat Blues Band zu Speiche und steht bis zum heutigen Tag mit ihm auf der Bühne.

Eines Tage bietet der Folkblues-Star Stefan Diestelmann seinem Kumpel Speiche an, Monokel als Backing Band mit auf Tour zu nehmen. Diese Einladung verschafft der Gruppe den denkwürdigsten Auftritt ihrer Karriere.

„Wir haben am 8. März 1983 zum Frauentag im Dessauer Frauenknast gespielt, vor dreihundert weiblichen Häftlingen“, erzählt der damalige Schlagzeuger Bernd „Erny“ Damitz. „Die Mädels wurden in Dreierreihen von Kalaschnikow-tragenden Wärterinnen in den bestuhlten Saal geführt. Wir haben anderthalb Stunden gespielt und zwischendurch Schokolade und Karo-Schachteln unauffällig unter die Sitze des Publikums geschossen.“
„Ich habe noch vor dem Konzert mit dem Gefängnisdirektor Schach gespielt“, sagt Speiche schaudernd. „Dabei habe ich versucht, meine Knasttätowierung am Unterarm zu verbergen. Mir ist bis heute ein Rätsel, wie das Konzert zustande kam. Unsere Roadies hatten auch gesessen. Sogar Diestelmann war vorher inhaftiert gewesen.“

Diestelmann haut zwei Jahre später in den Westen ab. Monokel spielen 1986 binnen zwei Tagen ihre erste und einzige Ost-LP ein.

Als die DDR die Mauer öffnet, verdrückt sich der Manager mit der Bandkasse. Es folgen magere Jahre, in denen Speiche als Roadie schuftet und eine Musikkneipe eröffnet. Mit seinen ex-Kollegen streitet er sich vor Gericht. Das Resultat: Monokel teilen sich in Mr. Speiches Monokel Blues Band und Monokel Kraftblues.

Das Buch „Bye-bye Lübben City“ leitet 2004 ein Revival ein. Nach einem Monokel-Song benannt, beschreiben darin szenekundige Autoren die Ost-Bluesszene. Leider scheitert die Versöhnung der Monokel-Fraktionen. Speiche beschließt, es trotzdem noch einmal zu versuchen. Ihm ist klar: 80.000 Stück wie damals beim DDR-Label Amiga werden Monokel nie wieder von einem Album verkaufen. Doch Speiches Truppe feiert andere Erfolge: Am 3. Oktober 2008 begeistert sie im Westberliner Quasimodo ihre Fans derart, dass die für den höchsten Getränkeumsatz in der Geschichte des Clubs sorgen –  acht Fässer Bier werden geleert.
Die Latte für das Jubiläumskonzert im Kesselhaus liegt also hoch. Stargäste haben sich angesagt: Stimmungskanone Achim Mentzel wird zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder mit seinem ex-Bassisten vom Diana Show Quintett die Bühne teilen. Es empfiehlt sich, das Auto zuhause zu lassen.

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